Bei den Benediktinern in St. Matthias in Trier habe ich vor Jahren miterlebt, dass täglich die Namen der Brüder vorgelesen werden, die an diesem Tag ihren Sterbetag hatten. Manche sind schon Jahrhunderte tot und trotzdem wird ihrer immer noch gedacht. In meiner früheren Gemeinde in Borgentreich haben wir das auch so gehalten: Sonntag für Sonntag haben wir die Namen derjenigen aus der Gemeinde, die in der vergangenen Woche ihren Sterbetag hatten, vorgelesen. Nicht selten gab es nach dem Gottesdienst noch einen Austausch von Erinnerungen an die Vorgelesenen. Wie oft standen Angehörigen die Tränen in den Augen, weil der Name von Eltern, Großeltern, Geschwistern nach Jahrzehnten in der Öffentlichkeit wieder genannt wurde.
Ich gehe gern auf Friedhöfe und freue mich, wenn ich dort auf eine lebhafte Erinnerungskultur stoße, auf Grabsteine, die etwas erzählen, manchmal mit Bildern, manchmal mit Sprüchen oder es wird etwas Persönliches hingelegt. So bleiben wir in Verbundenheit mit den Menschen, die nicht mehr da sind.
Ich erlebe aber auch das Andere, dass mir das Erinnern schwer und der Abschied unmöglich gemacht werden, weil Menschen mit ihrem Tod in der Anonymität verschwinden. Wie vielen ehemaligen Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden, aber auch Verwandten wird die Möglichkeit genommen, Abschied zu nehmen. Alles findet im kleinsten Kreis statt. War dieses Leben wirklich so unbedeutend, dass an seinem Ende nur noch eine Handvoll Menschen da sind? Das kann und will ich mir nicht vorstellen.
Wir brauchen das gemeinsame Abschiednehmen wie auch das gemeinsame Erinnern. Das hat etwas mit Würde zu tun. Da geht es um Respekt und alte Verbundenheit, um Dankbarkeit und gemeinsam Erlebtes.
Ist es uns eigentlich bewusst, dass wir uns, so wie wir sind, all denen verdanken, die vor uns gelebt haben, sei es vor wenigen Jahren, Jahrzehnten oder auch Jahrhunderten? Niemand lebt aus sich allein heraus. Wir bekommen so viel aus der Zeit vor uns an Prägungen, an guten und schweren Erfahrungen mit in unser eigenes Leben. Genauso geben wir es weiter an die Menschen, die uns überleben.
Ich besuche gern die Toten, mit denen ich, auf welche Weise auch immer, verbunden war. Das ist etwas Anderes, als immer mal in diesem und jenem Zusammenhang an sie zu denken. Ich mache mich bewusst zu ihnen auf den Weg, gehe hin, trete an die Gräber, nehme Kontakt mit ihnen auf, mit meinen Erinnerungen, die manchmal schön sind, manchmal bedrückend, mal mit Lachen, mal mit Tränen. Da ist sicher manches, was ich mit ihnen hinter mir lasse, aber auch so vieles, woran ich mit Freude und Dankbarkeit denke, was mein Leben über ihren Tod hinaus bereichert.
Immer wenn ich in Unterreitnau auf dem Pestfriedhof stehe, lese ich die Namen... Katharina Rist, Kind armer Verbannter, † 13. Dez. 1675 ... Peter Casparoli aus dem Thal Calancha, in Rudenweiler am 26. Dez. 1760 erschossen ... Jakob Höfer, Soldat, † 21. Febr. 1800 ... Mathias Söldner, † 7. Juni 1856 durch Selbstmord ... Es ist gut, dass ihre Namen nicht verloren gegangen sind. Mich mahnen sie, mich dafür einzusetzen, dass dies auch heute nicht geschieht. Grausig ist menschliches Handeln, wo es Menschen ihre Identität und Würde nimmt. Darin haben sich nicht nur die Nazis auf das Schrecklichste hervorgetan. Dies geschieht überall, wo Menschen heute spurlos verschwinden, wo es Gräber ohne Namen, Meere voller ungezählter Toten gibt. Wo wir dies zulassen, missachten wir die Verstorbenen, deren Würde und beschädigen uns selbst.